Die Pommersche Zeitung Folge 48/01 - 1. Dezember 2001 Seite 8


Eine unschätzbare Fundstelle

Die Muttriner Schulchronik

Von Elsbeth Vahlefeld


Niemand konnte voraussehen, daß Schulchroniken aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten einmal von besonderer Bedeutung für Geschichts- und Heimatforscher werden könnten.

Bedeutung und Geschichte der Muttriner Schulchronik

Weil gerade viele private, amtliche und kirchliche Dokumente durch die Kriegswirren unwiederbringlich verlorengingen, sind erhalten gebliebene Aufzeichnungen wie die Muttriner Schulchronik von unschätzbarem Wert. Nicht nur weit in dieser Chronik über alle Schulereignisse berichtet wird, sondern auch deshalb, weil die Chronisten es sich seinerzeit nicht haben nehmen lassen, auch stets über besondere Ortsereignisse, über politische Entwicklungen und sogar über das Wetter ausführlich und eingehend zu berichten.

Es grenzt an ein Wunder, daß die Chronik der Schule des Dorfes Muttrin, Kreis Stolp, erhalten geblieben ist und alle Kriegs- und Nachkriegswirren des Zweiten Weltkrieges heil überstanden hat. Die Schulchronik befindet sich derzeit in Privatbesitz und ist auf wundersame Art und Weise 1947 von einer mutigen Muttrinerin, nämlich Gerda Paeth, verheiratete Kuske, aus Muttrin herausgeschmuggelt worden. Gerda Paeth berichtet:

"Die Muttriner Schulchronik befand sich nach dem Kriege 1945 beim Bürgermeister Henke. Dieser war für kurze Zeit im Schloß Muttrin inhaftiert. Die Tochter des Bürgermeisters, Vera Henke, gab mir, als wir am 17. Oktober 1947 unseren Heimatort verlassen mußten, die Schulchronik mit der Bitte, sie gut zu verstecken und mitzunehmen. Vera Henke selber traute sich nicht, die Chronik einzustecken, weil sie als Tochter des Bürgermeisters Kontrollen durch die Polen befürchtete. Ich selber hatte damals keine Angst und machte mir eine Tasche, in deren Boden ich die Chronik versteckte.

Die Dorfstraße in Muttrin. Im Hintergrund die Schule.

Wir durften nur so viel mitnehmen, wie wir tragen konnten. Es war übrigens ein wunderschöner Herbsttag, als wir unseren Heimatort Muttrin für immer verlassen mußten. Zunächst ging es mit einem Bus nach Stolp. Von der Chaussee Richtung Stolp warfen wir noch einen letzten Blick auf unser Heimatdorf. Wir ahnten damals nicht, daß es ein Abschied für immer sein sollte. In Stolp wurden wir zunächst in einem Lager untergebracht, und dann ging die Fahrt mit einem Güterzug nach Magdeburg weiter. Die Fahrt dauerte im ganzen fast acht Tage.

Wir wurden, Gott sei Dank, während des gesamten Transports nicht einmal kontrolliert und kamen mit unseren wenigen Sachen heil in Magdeburg an. Mir war damals gar nicht bewußt, welches wertvolle Dokument ich in meiner Tasche herausgebracht hatte, Um so mehr freue ich mich, daß mir das damals geglückt ist. Andere Transporte sind im Gegensatz zu uns häufig kontrolliert worden, und den Ausgewiesenen wurden auch viele Sachen abgenommen. Wir hatten wirklich Glück, daß uns nichts passierte!"

Soweit der Bericht der mutigen Muttrinerin Gerda Kuske, geb. Paeth, der wir den Erhalt der kostbaren Muttriner Schulchronik mit so vielen Eintragungen zur Ortsgeschichte verdanken.

Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage: "Warum haben sich die Lehrer soviel Arbeit mit der Chronik gemacht?" Nun, die Schulchronik wurde keineswegs ganz freiwillig geführt, sondern es gab in Preußen spätestens seit 1872 Bestimmungen, die den Lehrer vorschrieben, eine Schulchronik zu führen. Es wird deshalb kurz auf die Entwicklung des Schulrechts in Preußen eingegangen.

Durch Edikt vom 28. September 1717 wurden die Eltern in Preußen verpflichtet, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Dieses Jahr gilt als Beginn der allgemeinen Schulpflicht in Preußen. Friedrich II., der Große, (1740-1786) beauftragte den Prediger Johann Julius Hecker eine Schulordnung für die preußischen Volksschulen zu erarbeiten.

Dieses General-Landschulreglement erschien am 12. August 1763 und befaßte sich bis im Detail mit der allgemeinen Schulpflicht, mit der Unterrichtszeit dem Schulgeld für notorisch arme Kinder, mit Strafgeld für Schulversäumnisse, mit Prüfungen und Beaufsichtigung der Lehrer, mit dem Gang des Unterrichts, mit Lehrbüchern und mit der Schuldisziplin. Am 11. Dezember 1845 wurde dann die Schulordnung für die Elementarschulen der Provinz Preußen erlassen.

Diese Schulordnung enthält sehr viele Vorschriften, die sich insbesondere mit der Schulpflicht, mit den Rechten und Pflichten der Lehrer und vor allem mit der Aufsicht über die Elementarschulen befaßten. Dem Gutsherrn als Schulpatron und dem Pfarrer oblagen nach obiger Vorschrift die Aufsicht über die Elementarschulen auf dem Lande. Insbesondere der Pfarrer hatte als sog. Lokalinspektor der Schule die Amtsführung des Lehrers und den inneren Schulbetrieb zu überwachen.

Aber auch dem Gutsherrn weist die Schulordnung Aufgaben zu, die insbesondere den äußeren Schulbetrieb (Schulbau u. a.) betreffen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn in der Muttriner Schulchronik eingehend und immer wieder über das Verhältnis des Lehrers zum Schulpatron / Gutsherrn und zum Pfarrer berichtet wird. Die in der Schulordnung niedergelegten Rechte und Pflichten der Beteiligten wurden nicht immer zur Zufriedenheit des Lehrers gehandhabt. Insbesondere scheint es häufig unterschiedliche Auffassungen über die Versorgung der Schule mit Brennholz gegeben zu haben.

Im Jahre 1872 schließlich verlagerte das Gesetz betreffend die Beaufsichtigung des Unterrichts- und Erziehungswesens vom 11. März 1872 die Aufsicht über die Schulen auf den Staat. Der Staat ernannte nunmehr Kreis- und Ortsschulinspektoren für die Schulaufsicht. Auf dem Lande beauftragte er Geistliche, die Schulaufsicht nebenamtlich auszuüben. Am 15. Oktober 1872 wurden "Allgemeine Bestimmungen" erlassen, die den äußeren und inneren Schulbetrieb regelten.

Es entstanden Richtlinien für den Bau von Schulhäusern, für die Größe von Schulzimmern, die Ausstattung mit Lehrmitteln, die Aufstellung von Lehr- und Stoffverteilungsplänen, das Anlegen von Versäumnislisten und das Führen der Schulchronik durch den Schulleiter oder den alleinigen Lehrer auf dem Lande.

Es ist also davon auszugehen, daß nach obigen Vorschriften spätestens ab 1872 auch in der Schule Muttrin eine Chronik erstellt werden mußte.



Aus dem Inhalt der Muttriner Schulchronik

Die Aufzeichnungen der Muttriner Schulchronik reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Die Chronik wurde von Julius Hermann Heinrich Trapp, der von 1881-1886 Lehrer in Muttrin war, wahrscheinlich im Jahre 1881 angelegt. Er hat seine Aufzeichnungen in zwei Abschnitte gegliedert. Abschnitt I befaßt sich sehr ausführlich mit der Gründung der Schule in Muttrin und mit den Schulverhältnissen von etwa 1793 bis 1886.

Im Abschnitt II geht er erschöpfend auf die Gemeinde Muttrin sowie auf die Geschichte des Hauses von Zitzewitz ein und beschreibt dabei anschaulich Ortsereignisse sowie das Verhältnis der Gutsherren von Zitzewitz zur Schule Muttrin. Für seine Schilderungen hat Lehrer Trapp auf Aufzeichnungen der Pastoren der Kirche Budow zurückgreifen können. Die Pastoren der Kirche Budow waren "Schulrevisoren" und haben über ihre Revisionen Berichte verfaßt, die abschriftlich in der Schulchronik niedergelegt sind. Die Originalen befanden sich im Besitz der Kirche Budow. Das geht aus einem Vermerk vom August 1938 hervor, der der Chronik angefügt ist.

Alle in Muttrin tätigen Lehrer haben dann regelmäßig die Chronik bis 1939 sorgfältig weitergeführt. Es sind deshalb für die Schule Muttrin alle Lehrer, ab 1927 auch Lehrerinnen, mit ihren Amtszeiten lückenlos bekannt. Am längsten war an der Muttriner Schule Hauptlehrer Bernhard Lietz (1908-1928) tätig.

Bernhard Lietz, dessen Vater Emil Lietz ebenfalls Lehrer in Muttrin war, war mit dem Ort und der Schule Muttrin eng verbunden. Die Chronik läßt erkennen, wie segensreich er für die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen gewirkt hat. Er war sicherlich der klassische Hauptlehrer überhaupt. Zunächst übernahm er die Stelle von seinem erkrankten Vater ohne Bezahlung aus der Staatskasse. Ihm zur Seite stand ein zweiter Lehrer, der allerdings nicht immer zur Verfügung stand. Häufig mußte Unterricht ausfallen, und Lehrer Lietz klagt auch hin und wieder über eine gewisse Überlastung. Auch in dem Nachbarort Kottow mußte er häufig Vertretungen übernehmen. Von Pflichtstundenregelungen waren die Schulen seinerzeit weit entfemt.

Nachfolger für Bernhard Lietz wurde Kurt Rietz, dem ebenfalls viele Informationen in der Chronik zu verdanken sind. Kurt Rietz war von 1929 bis Spätherbst 1939 Hauptlehrer in Muttrin und hat in bewährter Weise die Chronik bis 1939 geführt.

Ab 1912, also zu der Zeit des Hauptlehrers Bernhard Lietz, wird sehr systematisch über jedes Sommer- und Winterschuljahr berichtet. Dabei wird eine bestimmte Reihenfolge in der Berichterstattung eingehalten. Zunächst wird immer über die Entwicklung der Schülerzahlen, über den Gesundheitszustand der Kinder sowie über den Schulbesuch geschrieben. Dann folgen Eintragungen über schulinterne Veranstaltungen, über politische oder kulturelle Gedenktage, Schulrevisionen und Lehrerfortbildung. Breiten Raum nehmen Notizen über die örtlichen Witterungsverhältnisse und vor allem über örtliche Vorkommnisse ein. Gerade die Schilderung der örtlichen Ereignisse in allen Einzelheiten ist heute im nachhinein für Heimatforscher und ehemalige Muttriner von unschätzbarem Wert.

Die Schule in Muttrin im Jahre 1971.
(Fotos (2): Elsbeth Vahlefeld

Eingehend und gründlich wird der soziale Status der Lehrer beschrieben. Dieser war zunächst ziemlich gering, stieg dann aber ständig. So mußte der Lehrer bei der Ernte helfen und wurde wie ein Häusler behandelt. Auch über das Einkommen der Schulmeister wird gewissenhaft berichtet. Das Einkommen war gering und setzte sich zunächst jahrelang aus Schulgeld, Staats- und Gemeindeanteil zusammen.

Die Berechnung war recht kompliziert. Die Lehrer waren auf Nebeneinnahmen oder Naturalien angewiesen. So stand ihnen Weidefreiheit und freie Feuerung zu, deren Anlieferung auf die Gutsherrschaft, auf die kleinen Leute und die Bauern verteilt wurde. Dabei hat es aber sehr häufig Schwierigkeiten mit der Versorgung der Schule mit Brennmaterial und mit der freien Weidenutzung gegeben.

Im Laufe der Jahrzehnte gewannen die Lehrer jedoch an Ansehen und ihr Sozialprestige stieg sowohl bei der Bevölkerung, als auch, und das war sicherlich noch wichtiger, bei der Geistlichkeit und bei "ihrem Gutsherrn". Sie standen letztlich zwischen Gutsherrn, Kirche, Staat und Bevölkerung. Bis zur Normierung ihrer Gehälter war ihre Existenz mehr oder weniger in erster Linie vom Wohlwollen des Gutsherrn abhängig.

Die Stolpe bei Muttrin. Foto: PZ-Archiv

Anhand der Schulchronik läßt sich ab 1884 lückenlos feststellen, wie sich die Schülerzahlen im Ort Muttrin bis 1939 entwickelt haben. Im Jahre 1884 besuchten 89 Kinder die Schule Muttrin, während es im Jahre 1939 dann 112 Kinder waren. Die Schülerzahlen waren seit 1907 recht konstant, einzig das Jahre 1918 mit 170 Kindern fällt etwas aus dem Rahmen. Die Kinder wurden von nur zwei Lehrern unterrichtet! Zum Beispiel zählte die Schule im Jahre 1919 insgesamt 141 Kinder, und zwar I. Klasse 50, II. Klasse 43 und III. Klasse 48 Kinder.

Den Lehrern ist zur damaligen Zeit bei den wahrlich nicht kleinen Klassen schon einiges abverlangt worden! Allerdings bildete die Muttriner Schule in Hinblick auf die Lehrer-Schüler-Relation keine Ausnahme. In Preußen betrug diese nämlich 1911 im Durchschnitt auf dem Lande noch 1:61,8.

Auch über Naturkatastrophen, Feuersbrünste oder Seuchen, die die Bewohner Muttrins bis 1939 heimsuchten, wird in der Chronik ausdrucksvoll informiert. Dazu kommen Details über die Entstehung des örtlichen Friedhofes und die Versorgung des Ortes mit einer Wasserleitung für alle Gutshäuser (bereits 1915!).

Die Anbindung Muttrins an die Stromversorgung kann ebenfalls aus der Schulchronik zeitlich einwandfrei bestimmt werden. Ohne zu sehr ins Einzelne zu gehen, ist erwähnenswert, daß der Ort Muttrin bereits 1914 eine Straßenbeleuchtung bekam. Fünf Straßenlaternen wurden installiert wobei die Hälfte der Kosten jeweils zu Lasten des Gutsbesitzers von Zitzewitz und zu Lasten der Gemeinde ging. Auch scheint mir erwähnenswert, bereits 1916 wurde ein Gemeinschaftshaus, das Jugendheim, vom Gutsbesitzer von Zitzewitz gebaut. Das Jugendheim wird vielen ehemaligen Muttrinern in guter Erinnerung sein, zumal hier immer die örtlichen Feste (Sportfeste, Erntefeste) gefeiert wurden.

Die Schulchronisten gehen gewissenhaft auf die politischen Entwicklungen in der Provinz Pommern und im deutschen Reich ein (z.B. Wahlen zum Reichstag) und schildern die sozialen Verhältnisse der Ortsbewohner, beschreiben wichtige Sportereignisse mit Nennung der Sieger aus dem Ort Muttrin und sparen auch andere örtliche Vereinsaktivitäten in der Berichterstattung nicht aus.

Die Chronisten dokumentieren die Ehrung verdienstvoller Mitatbeiter durch den Gutsherrn und geben die Stimmung bei besonders einschneidenden Ereignissen wie Beginn des 1. Weltkrieges oder unerwarteter Tod des Gutsbesitzers Friedrich-Karl von Zitzewitz (1863-1936) wieder. Dabei werden auch Zeitungsausschnitte in die Chronik eingearbeitet was für heutige Leser besonders interessant und wertvoll ist. Das Verhältnis der Gutsherrschaft von Zitzewitz zu den Tagelöhnern, Freiarbeitern und den Bauern nimmt naturgemäß in der Chronik einen breiten Raum ein. Auch Aufzeichnungen über Preisentwicklungen oder auch über das Sparverhaltten der Muttriner sind für Leser der Chronik recht aufschlußreich.

Die Muttriner Schulchronik ist für alle ehemaligen Muttriner, aber darüber hinaus natürlich auch für viele Heimat- oder Geschichtsinteressierte eine unschätzbare Fundstelle. Es ist immer wieder spannend, in dieser Schulchronik zu lesen und nach Details zu forschen. Deshalb gebührt an dieser Stelle noch einmal ein besonderer Dank den beiden Muttrinerinnen, Gerda Paeth und Vera Henke, die geistesgegenwärtig die Schulchronik im Jahre 1947 aus Muttrin in den Westen mitgebracht haben.

E. Vahlefeld, Hoonkesweg 56,46286 Dorsten